Medizinisches Trauma (Medical Trauma) als komplexes Phänomen

Was versteht man unter dem Begriff „medizinisches Trauma“?

Ein medizinisches Trauma entsteht durch direkten Kontakt mit dem medizinischen Umfeld und resultiert aus einer komplexen Wechselwirkung zwischen Patient, medizinischem Personal, medizinischer Umgebung sowie diagnostischen und verfahrensbezogenen Erfahrungen. Diese können aufgrund der individuellen Wahrnehmung des Patienten tiefgreifende psychologische Auswirkungen haben.

Lassen Sie uns diese Definition in ihre Komponenten aufgliedern:

Zunächst wird durch den Begriff des direkten Kontakts ein medizinisches Trauma speziell für den Patienten definiert (das Phänomen des stellvertretenden medizinischen Traumas, bei dem Familie, Freunde und medizinisches Personal traumatische Stressreaktionen erfahren, verdient ebenfalls Beachtung, liegt aber außerhalb dieser Abhandlung).

Zweitens resultiert ein medizinisches Trauma aus der Interaktion mit dem medizinischen Umfeld. Der Begriff „medizinisches Umfeld“ umfasst alle direkten Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem, von Krankenhausaufenthalten über ambulante Operationen bis hin zu regelmäßigen Arztbesuchen für chronische oder lebensbedrohliche Erkrankungen.

Drittens entwickelt sich ein medizinisches Trauma durch eine komplexe Interaktion verschiedener Faktoren, einschließlich des Patienten, des medizinischen Umfelds und der durchgeführten Diagnose oder des Verfahrens.

Viertens kann ein medizinisches Trauma tiefgreifende psychologische Auswirkungen haben, die von klinischen und subklinischen psychischen Gesundheitsproblemen bis hin zu Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen reichen.

Schließlich ist die individuelle Interpretation des medizinischen Traumas durch den Patienten entscheidend für das Verständnis der Gesamtauswirkungen der Erfahrung.

Man mag sich fragen, ob sich ein medizinisches Trauma von anderen Traumaarten unterscheidet, insbesondere wenn der medizinische Kontext wegfällt. Unterscheidet sich die Erfahrung und Aufrechterhaltung medizinischer Traumasymptome wesentlich von der traumatischen Stressreaktion und den psychologischen Folgen anderer Arten traumatischer Erfahrungen?

Donald Edmondsons (2014) Forschung zu lebensbedrohlichen medizinischen Ereignissen und PTBS hat das Modell des „anhaltenden somatischen Bedrohungsgefühls“ hervorgebracht, eine Theorie, die medizinisches Trauma auf überzeugende Weise von nicht-medizinischem Trauma unterscheidet. Zum Beispiel argumentiert Edmondson, dass nicht-medizinische Traumata und PTBS als Reaktion auf ein diskretes Ereignis in der Vergangenheit auftreten, während medizinische Traumareaktionen andauern, da die Bedrohung im eigenen Körper lokalisiert ist. Für viele, die ein lebensbedrohliches medizinisches Ereignis erleben, ist eine kontinuierliche medizinische Betreuung erforderlich, was zu Symptomen von Übererregung, Wiedererleben und Vermeidung beitragen kann. Edmondson illustriert, dass das Trauma aus der emotionalen Erfahrung und Verwundbarkeit entsteht, die mit einer lebensbedrohlichen Krankheit einhergeht, und argumentiert, dass eine reale und gegenwärtige Gefahr in Verbindung mit medizinischem Trauma den Einfluss der traumatischen Stressreaktion auf das spätere Gesundheitsverhalten und die allgemeine Gesundheit ist.

Später werde ich weiter auf das Konzept der anhaltenden Bedrohung eingehen, die medizinische Traumasymptome aufrechterhalten kann. Doch zunächst möchte ich unser Verständnis davon vertiefen, indem wir einige Merkmale medizinischer Traumata ansprechen, die seine Einzigartigkeit unterstreichen und helfen zu verstehen, warum es in Bezug auf umfassendere Diskussionen über die ganzheitliche Patientenversorgung oft übersehen wird. Ich möchte dabei die Definition erweitern, um hervorzuheben, dass medizinisches Trauma subjektiv ist. Es ist am besten auf einem Kontinuum zu verstehen: Biopsychosozial-spirituell sowohl in der Erfahrung als auch in den Auswirkungen, kontextbezogen und relational.

Medizinisches Trauma ist von Natur aus subjektiv.

Während zahlreiche Traumaforscher sich auf die Reaktionen auf Ereignisse konzentrieren, die allgemein als traumatisch gelten, wie Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen, haben einige moderne Wissenschaftler ihr Augenmerk auf Traumata gerichtet, die im täglichen Leben auftreten. Sie betonen die Subjektivität in der Wahrnehmung dieser Erfahrungen. Scaer (2005) und Levine (2010) diskutieren jeweils ihre persönlichen Traumaerfahrungen und wie diese ihre Sichtweise und ihr Verständnis von Trauma als subjektive Erfahrung geprägt haben. In seinem Werk „Das Traumaspektrum“ hebt Scaer seine Kindheitserlebnisse mit medizinischem Trauma hervor und argumentiert, dass Traumata auf einem Spektrum verschiedener negativer Lebensereignisse existieren, die im Laufe eines Lebens auftreten können. Diese Ereignisse werden oft im Kontext des täglichen Lebens als ’normal‘ angesehen, weil sie von unseren kulturellen Institutionen unterstützt oder perpetuiert werden. Ob diese negativen Lebensereignisse als traumatisch empfunden werden, hängt davon ab, wie das betroffene Individuum sie interpretiert. In anderen Worten, ein Ereignis wird erst dann zu einem Trauma, wenn es von einer Person als solches empfunden wird. Diese Überlegungen sind zentral für unser Verständnis von medizinischem Trauma, da die Subjektivität ein wesentliches Merkmal dieser Traumaart ist.

Kurz gesagt, medizinisches Trauma ist nicht schwarz-weiß und oft schwer zu identifizieren, wenn wir nicht eng mit Patienten zusammenarbeiten, um ihre Erfahrungen zu verstehen. Wir können wir die traumatische Natur einer medizinischen Erfahrung nicht objektiv beurteilen, ohne mit dem Patienten zu sprechen. Daher sollten wir vorsichtig sein und es vermeiden, die Auswirkungen einer medizinischen Erfahrung zu charakterisieren, bevor wir nicht die Perspektive des Patienten vollständig verstanden haben.


Das bedeutet, dass wir keine Erfahrung eines Patienten als objektiv traumatisch oder nicht traumatisch bezeichnen können, nur weil er eine bestimmte Diagnose oder eine bestimmte Behandlung erhalten hat.

Medizinisches Trauma als Kontinuum

Medizinisches Trauma sollte als ein Phänomen betrachtet werden, das während des gesamten Versorgungsprozesses bei Patienten auftreten kann.

Obwohl wir nicht jede unmittelbare emotionale Reaktion eines Patienten auf medizinische Eingriffe genau vorhersagen können, ist es möglich, spezifische medizinische Situationen zu identifizieren, die potenziell starke psychologische Auswirkungen haben könnten, um entsprechend darauf zu reagieren. Im Rahmen der Entwicklung eines Modells für medizinische Traumata klassifizieren wir diese Situationen in drei Stufen, die sich auf einem Kontinuum von akuten bis zu weniger dringenden Bedrohungen bewegen:
Stufe 3 umfasst medizinische Notfälle; Stufe 2 bezieht sich auf lebensbedrohliche oder lebensverändernde Diagnosen; und Stufe 1 deckt geplante oder routinemäßige medizinische Behandlungen ab.
Diese Einstufung ist jedoch nicht starr, sondern dynamisch und durchlässig. Zum Beispiel könnte ein Patient, der einen Herzinfarkt erlebt hat (Stufe 3), während der nachfolgenden Behandlung (Stufe 2) eine traumatische Stressreaktion erleiden, die so schwerwiegend ist, dass selbst eine routinemäßige ärztliche Untersuchung bei geringfügigen Beschwerden wie einer Nasennebenhöhlenentzündung (Stufe 1) zu einer akuten Traumareaktion führen kann. Wir werden dieses Modell im weiteren Verlauf detaillierter erörtern.

Medizinisches Trauma ist ein biopsychosozial-spiritueller Prozess

Dank der fortschreitenden Forschung im Bereich der Traumatologie und unseres erweiterten Verständnisses von Neurowissenschaften und Gehirnfunktionen vertiefen wir kontinuierlich unser Wissen über die komplexen Auswirkungen von Traumata. Führende Traumaforscher haben erörtert, was physisch und psychisch geschieht, wenn das sympathische Nervensystem, insbesondere die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA), auf Stress reagiert und versucht, den Körper zu stabilisieren, sowie die Folgen, wenn diese Reaktion zur gewohnten Antwort auf Stress wird. Zudem sind uns die negativen Effekte einer traumatischen Stressreaktion bekannt, einschließlich der übermäßigen Freisetzung von Adrenalin und Cortisol, vor allem bei Personen, die eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln könnten.

Wie andere Traumaarten, die eine direkte Verbindung zum Körper haben, tritt medizinisches Trauma auf mehreren Ebenen auf:

  • Biologisch: Die körperliche Integrität wird durch Krankheit oder Verletzung beeinträchtigt, was eine medizinische Intervention zur Wiederherstellung der Gesundheit oder zur Kontrolle der Symptome notwendig macht.
  • Psychologisch: Ein Patient interpretiert die medizinische Behandlung, sein Leiden und die Interaktionen im medizinischen Umfeld auf eine persönlich einzigartige Weise, was zu einer psychophysiologischen Reaktion führt.
  • Sozial: Ein Patient erlebt das medizinische Trauma durch kontinuierliche Interaktionen mit medizinischem Personal und Angehörigen.
  • Spirituell: Das Trauma kann auch eine spirituelle Dimension haben, besonders wenn der Patient mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird.

Durch eine ganzheitliche Betrachtung von medizinischem Trauma können wir ein tieferes Verständnis dafür entwickeln, wie Patienten ihre beeinträchtigte Gesundheit innerhalb des medizinischen Rahmens erleben.

Basierend auf unserer Diskussion über die Subjektivität medizinischer Traumata ist uns bewusst, dass nicht jeder eine körperliche Diagnose oder medizinische Behandlung als traumatisch wahrnimmt; tatsächlich wird dies von der Mehrheit nicht so empfunden.

Für jene, die es jedoch als traumatisch erfahren, ist es wesentlich zu erkennen, dass die traumatische Stressreaktion nicht allein durch die individuelle psychophysiologische Antwort des Patienten bedingt ist, sondern auch durch die spezifischen Eigenschaften des Gesundheitsversorgungsumfelds – sprich dessen Kontext.

Medizinisches Trauma ist kontextabhängig

Forschungen zeigen, dass die Auswirkungen von medizinischem Trauma durch spezifische Faktoren des Patienten beeinflusst werden können, wie vorherige psychische Gesundheitsprobleme, frühere Traumata und Persönlichkeitsmerkmale.

Es ist wesentlich zu verstehen, dass medizinisches Trauma, obwohl subjektiv, nicht isoliert auftritt. Eine medizinische Erfahrung wird nicht allein dadurch traumatisch, dass ein Patient dazu neigt, traumatisiert zu werden; mit anderen Worten, eine Traumatisierung bei einem medizinischen Ereignis bedeutet keine Schwäche des Patienten.

Es gibt zahlreiche zusätzliche Faktoren, die die Wahrnehmung eines medizinischen Ereignisses als traumatisch beeinflussen können, einer davon ist der Kontext des medizinischen Umfelds. Umweltbedingungen wie Beleuchtung, die Anwesenheit unbekannter oder beunruhigender Objekte, Geräusche und Gerüche sowie unbequeme Möbel können alle die psychische Reaktion eines Patienten beeinflussen.

Des Weiteren können bestimmte medizinische Protokolle, die das Gefühl der Verletzlichkeit steigern – wie das alleinige Warten in einem Krankenhauskleid auf einen Eingriff – den Stress erhöhen und die Person für intensive emotionale Reaktionen anfälliger machen. Auch die Art und Weise, wie das medizinische Personal mit Patienten umgeht, und deren allgemeine Sensibilität für die besondere Situation des Patienten spielen eine wesentliche Rolle in der gesamten medizinischen Erfahrung eines Patienten.

In diesem Blogbeitrag versuche ich die vielfältigen Faktoren, die den Kontext eines medizinischen Traumas bilden, und wie Merkmale innerhalb des medizinischen Umfelds zur Erfahrung eines medizinischen Traumas beitragen können, näher zu betrachten.

Neben dem physischen Umfeld ist ein weiterer bedeutender kontextueller Faktor, der die Patientenerfahrung maßgeblich beeinflusst, die Beziehung zwischen Patienten und Gesundheitsdienstleistern.

Medizinisches Trauma ist relational

Während einige Traumata außerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen auftreten, wie zum Beispiel ein Mann, der bei einem durch Glatteis verursachten Autounfall verletzt wird, oder eine Frau, die beim Wandern stürzt, geschieht medizinisches Trauma oft im Kontext der Beziehung zwischen Patient und Anbieter. Diese Unterscheidung trägt zur Komplexität der im medizinischen Umfeld erlebten Traumata bei.

Die Qualität der Beziehung zwischen Patient und Behandler ist fundamental für die Patientenerfahrung und hängt davon ab, wie gut der Behandler Vertrauen aufbauen und Fürsorge sowie Respekt vermitteln kann. Wenn ein medizinisches Trauma auftritt, kann dies die Beziehung zwischen Patient und Behandler belasten; bleibt ein medizinisches Trauma unentdeckt und unbehandelt, kann dies weitere Komplikationen verursachen.

Die Beziehung zwischen Patient und Behandler ist einzigartig. Obwohl viel Wert darauf gelegt wird, eine patientenzentrierte Versorgung zu gewährleisten, gibt es Debatten darüber, was dies genau bedeutet und wie es erreicht werden kann. Obwohl Fortschritte gemacht wurden, von einer paternalistischen Sorge zu einer kooperativen Partnerschaft überzugehen, bleibt immer ein Machtgefälle in einer helfenden Beziehung bestehen.

Trotz der Ermächtigung, die durch das in der heutigen Zeit des Online-Zugangs zu Informationen erworbene Wissen entstehen kann, bleibt die Tatsache bestehen, dass sich ein Patient den Fähigkeiten und dem Fachwissen eines Behandlers unterwirft, besonders in machtlosen Situationen wie einer Operation oder einem invasiven Eingriff. Es bleibt auch in der Natur der Sache, dass in einer helfenden Beziehung Verletzlichkeit für den Hilfesuchenden und eine große Verantwortung für den Helfenden besteht.

Sozialisation und Double Bind im Kontext medizinischer Traumata

Der Beitrag untersucht die Herausforderungen der Sozialisation und die psychologischen Auswirkungen, die medizinische Behandlungen insbesondere bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen haben können. Dabei werden zwei zentrale Konzepte hervorgehoben: die Sozialisation zur Akzeptanz medizinischer Eingriffe und das psychologische Phänomen der Double Bind Theory.

Sozialisation und medizinische Traumata

Kinder werden früh darauf sozialisiert, medizinische Maßnahmen als notwendige Schritte zur Genesung zu akzeptieren. Doch diese Erfahrungen können oft von Angst, Schmerz und einem Gefühl des Kontrollverlusts geprägt sein.

Beispielsweise erlebt eine Mutter, wie ihre Tochter durch schmerzhafte und angstauslösende medizinische Untersuchungen und Behandlungen geprägt wird. Die Mutter sieht sich dabei einem inneren Konflikt ausgesetzt: Sie möchte ihr Kind beschützen, muss jedoch gleichzeitig zulassen, dass medizinische Eingriffe durchgeführt werden, die das Kind als traumatisch erlebt.

So sind Kinder mit chronischen Erkrankungen oder häufigen Krankenhausaufenthalten besonders gefährdet, negative psychologische Auswirkungen durch medizinische Traumata zu erleben.

Double Bind im Kontext medizinischer Traumata

Das Konzept der Double Bind Theorie wird hier auf medizinische Situationen übertragen. Eine Doppelbindung entsteht, wenn widersprüchliche Botschaften vermittelt werden, die nicht aufgelöst werden können. In medizinischen Kontexten kann dies auftreten, wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester einerseits als Helfer wahrgenommen wird, gleichzeitig aber auch derjenige ist, der Schmerzen oder Angst verursacht.

Ein Beispiel dafür ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern in medizinischen Situationen. Kinder könnten verwirrt sein, wenn die Eltern, die normalerweise beschützen, passiv zusehen, wie medizinisches Personal schmerzhafte Eingriffe durchführt. Diese Verwirrung kann langfristige psychologische Auswirkungen haben, insbesondere wenn die widersprüchlichen Botschaften nicht durch offene Kommunikation und Erklärung entschärft werden.

Relevanz für Erwachsene

Auch Erwachsene erleben medizinische Traumata, allerdings oft in einer sozialisierten Form der Akzeptanz. Die Schmerzen, die mit Behandlungen einhergehen, und die emotionalen Reaktionen wie Angst oder Panik werden oft unterdrückt, da die medizinischen Absichten als notwendig und heilend wahrgenommen werden. Dennoch bleibt die emotionale und psychologische Belastung bestehen, was die Komplexität des Double-Bind-Konzepts verdeutlicht.
Das Double-Bind-Konzept ist am relevantesten in Fällen, in denen die Bedrohung des Lebens sehr real ist; Emotionen wie Angst, Schrecken und Unsicherheit sind intensiv und Patienten erleben ihre medizinische Versorgung als Folter.

Fazit: Dies beiden Aspekte zeigen, wie wichtig es ist, die psychologischen Aspekte medizinischer Behandlungen zu berücksichtigen und sowohl Kinder als auch Erwachsene dabei zu unterstützen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Offene Kommunikation und ein Bewusstsein für die Double Bind in medizinischen Kontexten könnten dazu beitragen, den emotionalen Stress und die psychologischen Auswirkungen zu verringern.

Entrechtetes Trauma: Die unsichtbare Last medizinischer Erfahrungen

Medizinisches Trauma kann als entrechtetes Trauma betrachtet werden – eine Form des Leidens, das oft nicht anerkannt oder gewürdigt wird. Für unsere Zwecke bedeutet „entrechtet“ schlichtweg „nicht anerkannt“. Ähnlich wie bei entrechteter Trauer, die beispielsweise nach einer Fehlgeburt, einer Abtreibung oder dem Tod eines geliebten Haustiers auftreten kann, wird auch medizinisches Trauma häufig übersehen. Menschen zögern, über solche Erfahrungen zu sprechen, aus Angst, missverstanden zu werden oder dass ihr Schmerz heruntergespielt wird.

Ein Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld verdeutlicht dies: Eine Freundin erzählte mir kürzlich, dass sie ihre Katze einschläfern lassen musste. Ihre Schilderung war emotional und detailliert, doch am Ende ihrer Geschichte gestand sie, dass sie es nur wenigen Menschen erzählt habe, da sie befürchtete, dass andere ihre Trauer nicht nachvollziehen könnten. Diese Unsicherheit und Verletzlichkeit erinnern daran, wie oft bestimmte Formen von Trauer oder Trauma entwertet werden.

Ebenso kann auch medizinisches Trauma unbemerkt bleiben. Trotz der umfangreichen Forschung und Literatur zu Traumata gibt es erst in den letzten Jahren ernsthafte Bemühungen, die psychologischen und emotionalen Auswirkungen medizinischer Traumata anzuerkennen. Selbst der Begriff „medizinisches Trauma“ ist vergleichsweise neu und wurde bisher hauptsächlich in Bezug auf Kinder verwendet. Diese Lücke in der Forschung und im Bewusstsein ist bemerkenswert – insbesondere, da Menschen aller Altersgruppen von medizinischen Traumata betroffen sein können.

Warum wird medizinisches Trauma übersehen?

Es gibt mehrere Gründe, warum medizinisches Trauma nicht ausreichend anerkannt wird. Sowohl Patienten als auch ihre Familien und das medizinische Personal spielen hierbei eine Rolle.

  1. Fokus auf den physischen Körper
    Der Schwerpunkt der medizinischen Versorgung liegt meist auf physischen Symptomen. Entlassungsgespräche und Informationsmaterialien konzentrieren sich in der Regel auf die körperlichen Auswirkungen einer Behandlung. Selbst Gespräche zwischen Patienten, Familien und medizinischem Personal kreisen oft um Schmerzen oder körperliche Beschwerden, während emotionale Belastungen im Hintergrund bleiben.
  2. Emotionale Belastung wird übersehen
    Die psychologischen Auswirkungen medizinischer Eingriffe werden häufig von den physischen Aspekten überlagert. Emotionales Unbehagen, Angst oder psychische Belastungen bleiben dadurch unerkannt – nicht nur für das medizinische Personal und die Familie, sondern oft auch für die Betroffenen selbst.
  3. Stigmatisierung psychischer Gesundheit
    Viele Patienten zögern, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, da das Stigma einer psychiatrischen Behandlung immer noch präsent ist. Diese Zurückhaltung verstärkt die Unsichtbarkeit der emotionalen und psychologischen Folgen medizinischer Traumata.

Die Notwendigkeit der Anerkennung

Das mangelnde Bewusstsein für medizinisches Trauma ist ein ernsthaftes Problem. Patienten tragen oft eine unsichtbare Last, die durch das Fehlen einer angemessenen Anerkennung und Unterstützung verschärft wird. Es ist entscheidend, dass medizinisches Personal, Familien und die Gesellschaft als Ganzes lernen, die emotionalen und psychologischen Auswirkungen medizinischer Behandlungen wahrzunehmen und zu adressieren.

Durch offene Gespräche, bessere Integration psychologischer Betreuung in die medizinische Versorgung und die Sensibilisierung aller Beteiligten kann medizinisches Trauma sichtbarer gemacht und seine Auswirkungen auf die Betroffenen gemildert werden. Nur durch eine ganzheitliche Perspektive können wir der Unsichtbarkeit und Entrechtung solcher Erfahrungen entgegenwirken.

Da das Stigma, eine psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen, im Leben vieler Patienten und leider auch nach wie vor bei Medizinern gelebte Realität ist, können psychische Belastungen und emotionale Folgen eines medizinischen Traumas möglicherweise dauerhaft unerkannt bleiben.

Medizinisches Trauma im Kontext verstehen: Die ökologische Perspektive

Um medizinisches Trauma umfassender zu begreifen und effektive Interventionen zu entwickeln, ist es wichtig, die Komplexität der zugrunde liegenden Faktoren zu erkennen. Diese Traumata resultieren selten aus einem einzigen Auslöser. Eine zu vereinfachte Sichtweise, die die Ursache allein in den Prädispositionen des Patienten sucht, lässt einen bedeutenden Teil des Puzzles außer Acht. Ein erweitertes Verständnis kann durch die Anwendung der ökologischen Perspektive (EP) gewonnen werden.

Was ist die ökologische Perspektive?

Der Begriff „Ökologie“ bezieht sich auf die Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt. Dieses Konzept lässt sich ebenso auf menschliches Verhalten anwenden. Bereits in den 1930er Jahren nutzte der Psychologe Kurt Lewin ökologische Prinzipien, um menschliches Verhalten zu untersuchen. Er entwickelte die Formel: B=f(P,E)

Diese Gleichung stellt Verhalten (B) als Funktion (f) der Interaktion zwischen einer Person (P) und ihrer Umgebung (E) dar. Sie verdeutlicht, dass menschliches Verhalten sowohl von individuellen Faktoren (z. B. Gedanken, Emotionen, persönliche Geschichte) als auch vom Kontext (z. B. physische Umgebung, soziale und kulturelle Kräfte) geprägt wird.

Verschachtelte Systeme und das Modell von Bronfenbrenner

Der Psychologe Urie Bronfenbrenner erweiterte diese Idee, indem er ein Modell verschachtelter Systeme entwickelte. Diese Systeme repräsentieren verschiedene Kontexte, die Menschen beeinflussen:

  1. Das Individuum
    Im Zentrum steht die Person selbst, mit individuellen Merkmalen wie Persönlichkeit, körperlicher Gesundheit, Entwicklungsgeschichte, Gedanken und Gefühlen.
  2. Das Mikrosystem
    Dieses umfasst direkte Umgebungen wie Familie, Freunde, Arbeitsplatz, Schule oder Gemeinde. Hier finden dyadische Interaktionen statt, wie etwa zwischen Eltern und Kind oder Patient und Arzt.
  3. Das Mesosystem
    Das Mesosystem beschreibt die Verbindungen zwischen Elementen des Mikrosystems, beispielsweise die Interaktion zwischen Familienangehörigen und medizinischem Personal.
  4. Das Exosystem
    Es umfasst größere soziale Systeme, in denen die Person nicht direkt beteiligt ist, die jedoch indirekt Einfluss nehmen, etwa durch Gemeinschaftsressourcen, lokale Medien oder die Industrie.
  5. Das Makrosystem
    Hierbei handelt es sich um den kulturellen Kontext, einschließlich gesellschaftlicher Normen, Werte und Überzeugungen, die das Leben eines Menschen beeinflussen.

Diese verschachtelten Systeme ähneln den russischen Matrjoschka-Puppen: Jede Ebene repräsentiert einen Kontext, der von direktem zu indirektem Einfluss reicht.

Die ökologische Perspektive auf medizinisches Trauma

Die ökologische Perspektive bietet ein robustes Rahmenwerk, um die komplexen Interaktionen zwischen Patienten, medizinischem Personal, der physischen Umgebung und den medizinischen Erfahrungen zu verstehen. Sie berücksichtigt:

  • Individuelle Faktoren
    Dazu gehören Risikofaktoren, Schutzmechanismen, die Toleranz gegenüber medizinischen Umgebungen und Fragen der Identität.
  • Umwelteinflüsse
    Diese beinhalten die physische Gestaltung medizinischer Einrichtungen und die Dynamik des medizinischen Personals.
  • Systemische Interaktionen
    Etwa wie Familie und Gesundheitsdienstleister zusammenarbeiten oder wie kulturelle Einstellungen die Wahrnehmung medizinischer Eingriffe beeinflussen.

Fazit: Das Modell der ökologischen Perspektive erinnert daran, dass menschliches Verhalten kontextabhängig und von vielfältigen Einflüssen geprägt ist. Es zeigt, dass Patienten nicht isoliert betrachtet werden können, sondern stets in einem Netz aus verschachtelten Systemen existieren.

Die herausragenden Faktoren, die
a) innerhalb eines einzelnen Patienten existieren, wie Resilienzfaktoren, Toleranz gegenüber der medizinischen Umgebung und Fragen der Identität +
b) die vielen Umwelteinflüsse, wie z. B. die physische Umgebung und die Einstellung des Arztes sowie der Umgang des medizinische Personals mit dem Patienten =
schaffen eine komplexe Interaktion, die beeinflusst, wie Patienten auf eine medizinische Diagnose, ein Verfahren oder ein Ereignis reagieren.

Die Bedeutung der Bedeutungsfindung

Medizinisches Trauma ist eine höchst subjektive Erfahrung, geprägt von der individuellen Interpretation einer Person ihrer medizinischen Erlebnisse. Diese Interpretation beeinflusst, wie Menschen über ihre Krankheit oder Behandlung nachdenken, welche Emotionen sie empfinden und wie sie in Bezug auf das Verhalten des medizinischen Personals und die Behandlungsumgebung reagieren. Innerhalb der ökologischen Perspektive (EP) wird dieser Prozess als Bedeutungsfindung bezeichnet.

Subjektive Deutung als Schlüssel

Jeder Patient erlebt das medizinische Umfeld, Diagnosen, Eingriffe, Interaktionen mit Gesundheitsdienstleistern und die Zeit nach der Behandlung auf einzigartige Weise. Diese subjektiven Deutungen sind entscheidend für die emotionalen Reaktionen, Entscheidungen, Bewältigungsstrategien und Verhaltensweisen des Patienten. Die Bedeutungsfindung steuert somit, wie Patienten mit ihren Erfahrungen umgehen und langfristig darauf reagieren.

Die Rolle der Bedeutungsfindung in der Patientenversorgung

Um die Auswirkungen einer medizinischen Erfahrung auf einen Patienten zu verstehen, ist es unerlässlich, die individuelle Bedeutungsfindung zu erfassen. Was bedeutet eine Diagnose für den Patienten? Wie interpretiert er oder sie die Behandlung und ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden?

Diese Fragen sind zentral, da die Bedeutungsfindung nicht nur das unmittelbare Erleben, sondern auch die langfristige Verarbeitung und Anpassung des Patienten beeinflusst.

Die Bedeutungsfindung ist ein fundamentaler Bestandteil des Erlebens und der Bewältigung medizinischer Traumata. Indem sich die Behandler und das (pflegende) Umfeld auf die subjektive Perspektive eines Patienten einlassen, können nicht nur die Auswirkungen einer Behandlung besser verstanden werden, sondern auch individuellere und wirkungsvollere Unterstützung geboten werden.

Die vier Faktoren des medizinischen Traumas

Obwohl medizinische Traumata komplex sind und viele Einflussfaktoren umfassen, können sie in vier Hauptkategorien unterteilt werden, die in den nächsten Kapiteln detailliert behandelt werden:

  1. Patientenfaktoren
  2. Diagnosen und Verfahren
  3. Medizinisches Personal
  4. Medizinisches Umfeld

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1. Patientenfaktoren

Medizinisches Trauma ist eine subjektive Erfahrung, die stark von den individuellen Eigenschaften und der Vorgeschichte eines Patienten beeinflusst wird. Persönlichkeitsmerkmale, z. B. die „Big Five“:
Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit),
Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus),
Extraversion (Geselligkeit; Extravertiertheit), Verträglichkeit (Rücksichtnahme, KooperationsbereitschaftEmpathie) und Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit),
sowie frühere Traumata und psychische Erkrankungen können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Patient eine medizinische Erfahrung als traumatisch empfindet. Gleichzeitig tragen Schutzfaktoren wie Resilienz, Hoffnung und Optimismus dazu bei, Belastungen zu bewältigen. Diese individuellen Variablen prägen, wie Patienten Diagnosen, Verfahren und das medizinische Umfeld interpretieren und darauf reagieren.

2. Diagnosen und Verfahren

Nicht jede medizinische Diagnose oder jedes Verfahren führt zu einem Trauma, doch bestimmte Bedingungen sind stärker belastend. Diese können in drei Ebenen des medizinischen Traumas unterteilt werden:

  • Stufe 1: Geplante oder routinemäßige Verfahren
    Auch scheinbar harmlose medizinische Maßnahmen, wie geplante Untersuchungen oder kleinere Eingriffe, können aufgrund früherer Traumata, Angst vor Schmerzen oder der Umgebung als belastend empfunden werden.
  • Stufe 2: Lebensbedrohliche oder lebensverändernde Diagnosen
    Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronische Leiden haben oft tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben und die Psyche der Patienten. Diese Diagnosen erfordern besondere Aufmerksamkeit, um nicht nur die körperliche, sondern auch die emotionale Gesundheit zu unterstützen.
  • Stufe 3: Medizinische Notfälle
    Akute Ereignisse wie Herzinfarkte, Schlaganfälle oder schwere Verletzungen können direkt traumatische Reaktionen hervorrufen. Diese Erfahrungen sind oft durch lebensbedrohliche Situationen und intensive Eingriffe gekennzeichnet.

3. Medizinisches Personal

Die vier Faktoren – Patient, Diagnose, medizinisches Personal und medizinisches Umfeld – bieten ein ökologisches Verständnis für die Entstehung medizinischer Traumata. Diese Perspektive ermöglicht es, die einzigartigen Erfahrungen von Patienten zu berücksichtigen und die Versorgung entsprechend anzupassen. In den kommenden Kapiteln werden diese Faktoren detailliert untersucht, um die Auswirkungen auf die Patienten und mögliche Interventionen zu beleuchten.

Das Verhalten und die Kommunikation des medizinischen Personals spielen eine entscheidende Rolle in der Patientenerfahrung. Empathie, Sensibilität und die Qualität der Versorgung beeinflussen, wie Patienten medizinische Ereignisse wahrnehmen und bewältigen. Darüber hinaus ist die Fähigkeit des Personals, mit interprofessionellen Teams zusammenzuarbeiten, ein wichtiger Faktor. Solche Teams, die medizinische und psychologische Fachkräfte integrieren, können sicherstellen, dass Patienten eine ganzheitliche Versorgung erhalten.

4. Medizinisches Umfeld

Das medizinische Umfeld hat einen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Patienten. Während medizinisches Personal sich oft an diese Umgebung gewöhnt hat, erleben Patienten sie häufig als fremd und entmenschlichend. Diese Dekontextualisierung – der Verlust des Gefühls von Kontrolle und Zugehörigkeit – kann die Verletzlichkeit der Patienten erhöhen und zur Traumatisierung beitragen. Eine gezielte Gestaltung des medizinischen Umfelds kann helfen, den Stress zu reduzieren.


Die Ebenen des medizinischen Traumas

Die Abbildung zeigt das Kontinuum medizinischer Traumata, das von routinemäßigen Verfahren (Stufe 1) bis hin zu medizinischen Notfällen (Stufe 3) reicht. Die subjektive Interpretation des Patienten und die objektive Bedrohung für Leben und Wohlbefinden bestimmen die Position auf diesem Kontinuum. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass ein Patient an jedem Punkt des Kontinuums ein Trauma erleben kann, abhängig von seiner individuellen Vorgeschichte.


Fazit

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Die Auswirkungen eines medizinischen Traumas

Die Literatur zu den Auswirkungen medizinischer Traumata konzentriert sich häufig auf spezifische Ereignisse oder Diagnosen und deren Zusammenhang mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), etwa nach einem Herzstillstand. Obwohl PTBS eine bedeutende Reaktion auf medizinisches Trauma sein kann, wäre es unzureichend, sich nur auf diese schwere klinische Störung oder andere im DSM-5 aufgeführte Diagnosen zu beschränken. Medizinisches Trauma kann ebenso weitreichende, langfristige Folgen haben, die möglicherweise nicht die diagnostischen Kriterien für psychische Störungen erfüllen, aber dennoch lebensverändernd sind. Neben klinischen Reaktionen wie Angst und Depression widmen wir uns den sekundären Krisen, die aus der Erfahrung eines medizinischen Traumas resultieren können.


Klinische Reaktionen auf medizinisches Trauma

Angst und PTBS

In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung unser Verständnis der Prävalenz von PTBS als Reaktion auf verschiedene medizinische Krisen erweitert. Dazu zählen Geburtstraumata, Herznotfälle, Schlaganfälle und schwere Autoimmunerkrankungen wie HIV. Diese Studien haben dazu beigetragen, psychologische Risikofaktoren und kontextuelle Merkmale zu identifizieren, die zur Entwicklung dieser belastenden Störung beitragen.

Trotz der Bedeutung, PTBS und akute Belastungsstörungen im Zusammenhang mit medizinischen Traumata zu verstehen, ist es wichtig zu betonen, dass Patienten auch andere klinische Störungen entwickeln können, deren Auswirkungen ebenso schwerwiegend sein können. Ein Beispiel hierfür ist Depression.

Depression

Depressionen können auf einem Kontinuum von vorübergehenden, nicht klinischen Gefühlen bis hin zu schweren klinischen Störungen auftreten. Die Erfahrung eines medizinischen Traumas kann für viele Patienten ein Schock sein, der das emotionale Gleichgewicht und die Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit erschüttert.

Lebensverändernde oder bedrohliche Diagnosen wie Krebs, Herzerkrankungen oder Diabetes können intensive Emotionen wie Traurigkeit und Verzweiflung hervorrufen. Solche Diagnosen markieren für viele Patienten das Ende bestimmter Lebensabschnitte – sei es die Vorstellung von Gesundheit, der gewohnte Lebensstil oder sogar das Leben selbst. Diese Verlusterfahrungen können Trauer und Depressionen auslösen, die häufig von Patienten und ihren Familien zunächst nicht erkannt werden.


Sekundäre Krisen durch medizinisches Trauma

Neben klinischen Reaktionen können medizinische Traumata zu tiefgreifenden Beeinträchtigungen in nahezu allen Lebensbereichen führen, darunter:

  • Beziehungen: Spannungen in familiären, partnerschaftlichen oder sozialen Verbindungen.
  • Beruf: Schwierigkeiten bei der Rückkehr zur Arbeit oder dem Umgang mit beruflichen Anforderungen.
  • Entwicklung: Verzögerungen oder Rückschritte in der persönlichen oder beruflichen Weiterentwicklung.
  • Selbstbewusstsein: Verlust des Selbstwertgefühls oder der Identität.
  • Spiritualität: Hinterfragen oder Verlust von Glauben und Lebenssinn.
  • Identität: Veränderungen in der Wahrnehmung des eigenen Selbstbilds.

Diese sekundären Krisen können ebenso belastend sein wie klinische Störungen und wirken sich häufig auf die langfristige Lebensqualität aus.


Fazit und Ausblick: Während klinische Reaktionen wie Angst und Depression eine zentrale Rolle in der Erforschung medizinischer Traumata spielen, ist es entscheidend, auch die oft übersehenen sekundären Krisen zu betrachten. Diese können das Leben der Betroffenen in umfassender Weise beeinträchtigen, auch wenn sie nicht den diagnostischen Kriterien für psychische Störungen entsprechen. Im folgenden gehe ich tiefer auf diese sekundären Krisen ein und beleuchte Möglichkeiten zur Unterstützung betroffener Patienten.

Sekundäre Krisen

Emotionale Krise

Die emotionale Reaktion auf ein medizinisches Trauma ist ebenso individuell wie die körperliche. Patienten können Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Wut oder Apathie erleben. Wenn diese Emotionen intensiv und anhaltend werden, können sie das normale Funktionsniveau beeinträchtigen und eine emotionale Krise auslösen. Solche Krisen können sich in klinischen Störungen wie PTBS oder Depression manifestieren oder als subklinische, aber dennoch belastende emotionale Belastung auftreten.

Beziehungskrise

Ein medizinisches Trauma beeinflusst nicht nur den Patienten, sondern auch dessen soziale Beziehungen. Rollen innerhalb von Familien oder Freundeskreisen können sich durch körperliche Einschränkungen oder emotionale Belastungen verändern, was zu Spannungen und Missverständnissen führen kann.

Beispielsweise führte die Diagnose von Gebärmutterkrebs und eine Hysterektomie bei einer Patientin namens Lana zu emotionalem Stress und Spannungen in ihrer Ehe, was letztlich zu einer Scheidung führte. Diese Beziehungskrise zeigte, wie eng emotionale, physische und soziale Faktoren miteinander verbunden sind.

Entwicklungskrise

Eine Entwicklungskrise tritt auf, wenn ein medizinisches Trauma den normalen Lebensverlauf eines Patienten unterbricht. Beispiele sind verpasste Meilensteine, wie der Abschluss eines Studiums oder die Gründung einer Familie. Im Fall von Lana führte ihre Hysterektomie dazu, dass sie ihren Traum von biologischen Kindern aufgeben musste, was ihre persönliche und soziale Entwicklung nachhaltig beeinflusste.

Identitätskrise

Eine Identitätskrise entsteht, wenn Patienten Schwierigkeiten haben, sich in neuen Lebensumständen zurechtzufinden. Schwere Krankheiten oder Verletzungen können das Selbstbild und die Lebensziele infrage stellen. Patienten wie Lana, die mit gesellschaftlich definierten Rollen als Ehefrau und Mutter ringen, können intensiven Stress und Unsicherheiten erleben.

Spirituelle/existenzielle Krise

Medizinische Traumata können Fragen nach Sinn, Glauben und Existenz aufwerfen. Patienten, die Schwierigkeiten haben, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, können ihren Glauben infrage stellen und eine existenzielle Krise durchleben. Solche Krisen werden oft von der Frage geprägt: „Warum ist mir das passiert?“ Die Unfähigkeit, eine Antwort zu finden, kann das emotionale Wohlbefinden stark beeinträchtigen.

Berufs-/Freizeitkrise

Verlust von Routinen oder die Unfähigkeit, geliebten Aktivitäten nachzugehen, können zu erheblichen Belastungen führen. Freizeitaktivitäten bieten oft emotionale Entlastung und Sinn. Der Verlust solcher Möglichkeiten, wie im Fall von Jim, einem Läufer, der seine Hauptstrategie zur Stressbewältigung verlor, kann schwere Depressionen und sogar tragische Konsequenzen nach sich ziehen.

Finanzkrise

Medizinische Traumata können auch finanzielle Belastungen verursachen. Kosten für Behandlungen, Medikamente oder Rehabilitation können zu existenziellen Nöten führen und andere sekundäre Krisen wie Beziehungskonflikte oder emotionalen Stress verschärfen.


Zusammenfassung

Medizinische Traumata haben weitreichende Auswirkungen, die sich auf verschiedene Ebenen des Lebens auswirken. Neben primären körperlichen Krisen können sie sekundäre Krisen auslösen, die emotionale, soziale, berufliche und existenzielle Bereiche betreffen. Diese Auswirkungen sind häufig miteinander verwoben und erfordern eine ganzheitliche Betrachtung.

Das Verständnis für die Vielschichtigkeit medizinischer Traumata kann dazu beitragen, präventive und unterstützende Maßnahmen zu entwickeln, die Patienten nicht nur körperlich, sondern auch emotional und sozial stärken.

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Studie aus UK

Management of post-acute covid-19 in primary care

Daten zur Corona Langzeitfolgen aus Großbritannien berichten bei 20% der Patienten über protrahierte Symptome auch 4 Wochen nach Infektion. 6 Monate nach stattgehabter Infektion werden bei 10% der Patienten noch Symptome angegeben. Insbesondere die chronische Fatigue kann 4 Wochen nach Infektion noch mit einer Häufigkeit von 35-34% der Fälle und 12 Wochen nach Infektion noch in 16-55% der Fälle vorliegen.

Depression und Angst nach Covid Infektion

PSYCHOLOGICAL CONSEQUENCES OF LONG COVID: COMPARING TRAJECTORIES OF DEPRESSIVE AND ANXIETY SYMPTOMS BEFORE AND AFTER CONTRACTING SARS-COV-2 BETWEEN MATCHED LONG- AND SHORT-COVID GROUPS

Daisy Fancourt, Andrew Steptoe and Feifei Bu (The British Journal of Psychiatry (2022) Page 1 of 8. doi: 10.1192/bjp.2022.155

Diese interessante Studie erforscht die Symptome von Depression und Angst nach einer COVID19-Infektion und verwendet Vergleichsdaten vor der Infektion.
Sie kommt zum Ergebnis, dass Covid19 entsprechende Symptome triggert, welche bei Long Covid länger anhalten. Ganz besonders relevant scheint aber folgender Kontext:


„Symptoms of depression and anxiety emerge quickly following the onset of SARS-CoV-2 infection […] This points to immediate psychobiological pathways […] Existing literature proposes that inflammatory mechanisms could be at play.“

„[It] may not simply be a case of initial anxiety symptoms experienced during acute infection […] persisting, but also a consequence of new psychological challenges relating to the realisation that one’s initial infection is becoming Long COVID.“

„Barriers to diagnosis with Long Covid and subsequent challenges navigating and accessing treatments can in itself exacerbate Long COVID. […] These additional treatment-related stressors could contribute to the prolonging of Long COVID symptoms.“

„We recommend that any mental health support needs to be provided alongside (rather than as a substitute for) broader medical investigation and support for Long COVID“

„[…] given diagnosis of psychiatric symptoms without adequate attention to other symptoms has been found to be detrimental to mental health in patients with Long COVID.“